„Krieg in Zehlendorf – Der Dächerkrieg am Fischtal“
Von Richard Röhrbein
Die Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg war katastrophal: Millionen von Menschen suchten eine angemessene Wohnung, menschenwürdig gelegen, ausreichend groß und bezahlbar. Die bis dahin ausschliesslich privatwirtschaftliche Wohnungswirtschaft hatte versagt. Die Weimarer Republik übernahm die Fürsorge für das Wohnen in die Verfassung auf und organisierte in Form der Gemeinnützigen Wohnungswirtschaft Abhilfe, vor allem durch die nun zum ersten Mal in der Geschichte einsetzende staatliche Förderung, unter anderem durch die „Hauszinssteuer“. Diese Siedlungen lagen weitgehend aufgrund der hier niedrigeren Grundstückspreise am Stadtrand – wie auch hier in Zehlendorf. Organisiert wurden diese Siedlungen durch gewerkschaftliche Einrichtungen – wie auch hier durch die Gehag und die Gagfah, die je ein eigenes Programm verfolgten und unterschiedliche Bewohnerschaften, Einkommensschichten und Parteizugehörigkeiten versorgten.
DIE STRASSE AM FISCHTAL
Die bürgerlichen Mehrheiten des Bezirks Zehlendorf hatten sich zunächst
mit allen Kräften gegen diese Siedlung für Arbeiterfamilien aus der
Innenstadt gesträubt. Schließlich begann die Gehag 1926 den Siedlungsbau
mit dem „Kiefernhof“ nahe dem U-Bahnhof, entlang der Riemeisterstrasse.
Der Siedlungsbau kam in den folgenden Jahren auch auf der Westseite der
Strasse am Fischtal voran. Die Ostseite der Strasse sollte unbebaut
bleiben und den Blick auf den im Zuge des U-Bahnbaus und seinem
Bodenaushub entstandenen Fischtal-Park offen halten. Dann setzten ab
1927 Planungen der Gagfah für „gehobene Einkommensschichten“ mit
möglicher Eigentumsbildung ein. Dieser beiderseitige Siedlungsstreifen
von der Wilski – bis zur Onkel-Tom-Strasse steht in sehr vielfältigen
sozialen, politischen und baukulturellen Zusammenhängen. Er ist auch
die ideologische Reaktion auf die Weissenhofsiedlung in Stuttgart, der
Avantgarde der modernen Architektur.
Die konservativen Gegner der Onkel-Tom-Siedlung diffamierten das Flachdach als architektonisches Verbrechen und setzten ihm das „deutsche“ Spitzdach entgegen, unter anderem auf der südlichen Seite der Straße Am Fischtal und im Sprungschanzenweg. Der hier ausgefochtene „Dächerkrieg“, die Verurteilung des Flachdaches, war ein Symbol für den Kampf der Konservativen gegen den sozialen Wandel überhaupt. Das Spitzdach und die Kritik an der „entarteten Baukunst“ wurden später Kernbestandteil der nationalsozialistischen Ästhetik.
Der Dächerkrieg ist längst verhallt. Hier werden keine Farbbeutel mehr geworfen, keine ideologischen Grabenkriege mehr geführt. Die beiden ehemaligen Gewerkschaftsorientierungen – Gehag und Gagfah – sind heute amerikanische Fonds mit deutscher Beteiligung. Alles in allem ein Stück spannende Kultur- und Sozialgeschichte mit guter landschaftlicher Einbindung.
Aber bei allen zurückliegenden und vergessen erscheinenden kulturgeschichtlichen Aspekten bleibt festzuhalten:
Die an der Onkel-Tom-Siedlung Beteiligten wurden von den Nationalsozialisten existentiell bedroht und mussten Deutschland unter Lebensgefahr verlassen. Der ursprüngliche Bodenbesitzer, Bauunternehmer und Entwickler der U-Bahn Adolf Sommerfeld floh nach England. Martin Wagner, der Gewerkschaftsfunktionär der „Sozialen Baubetriebe“ und Stadtbaurat von Berlin, fand Aufnahme in der Türkei. Alle beteiligten Architekten wurden zum Gehen gezwungen. Bruno Taut floh über Japan in die Türkei, Hugo Häring konnte in seinem Geburtsort Bieberach untertauchen, Rudolf Salvisberg ging in seine Schweizer Heimat, Fred Forbat emigrierte nach Schweden, Alfred Grenander zog sich in seine Heimat Schweden zurück.
Einige Architekten der „Gegenseite“, der Spitzdachseite, wurden indes die Erfolgsarchitekten im „Dritten Reich“. Die Gagfah bekam eine Sonderstellung nach 1933, die Gehag wurde in der Reichsarbeitsfront „gleichgeschaltet“. Etliche Bürger der Onkel Tom-Siedlung als Sozialdemokraten oder Gewerkschaftler zu teilweise erheblichen Gefängnisstrafen verurteilt.
Gedächtnistafeln erinnern an die Ermordung zweier Bürger in Zusammenhang mit dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Und seit 2009 weist an der Ecke Wilkistraße/ Straße am Fischtal eine Informationstafel des Bezirksamtes auf den „Dächerkrieg hin, aber leider nicht auf diese bitteren Wahrheiten.
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