taz 25.10.2019
Insel mit ’nem prima Klima
Die BewohnerInnen der Papageiensiedlung in Berlin-Zehlendorf wollen CO2-neutral leben. Dabei könnte auch die Deutsche Wohnen helfen. Von Luise Land
BERLIN taz | Wenn Christian Küttner aus seinem Haus am Rande des Grunewalds geht, steht da ein Elektroauto, das er mit anderen Familien in der Siedlung teilt. Zahlen muss er dafür nichts, denn der Strom kommt aus der Solarkraft seiner eigenen Photovoltaikanlage. 200 geteilte Elektroautos statt 1.000 normale Autos, eine Solaranlage auf seinem eigenen Dach, eine auf dem U-Bahnhof Onkel Toms Hütte und eine auf einem Gewächshaus für den Anbau von Gemüse: So stellt sich Küttner sein zukünftiges Zuhause vor. Wenn es um Solarenergie in der Papageiensiedlung in Berlin-Zehlendorf geht, hat er große Visionen.
Die BewohnerInnen der zwischen 1926 und 1931 vom Architekten erbauten bunten Häuschen verstehen sich liebevoll als Dorf mit U-Bahn-Anschluss. Bis 2030 wollen sie eine CO2-neutrale Siedlung sein. Die AnwohnerInnen Christian Küttner, Ute Scheub und Ute Rother-Kraft sind MitbegründerInnen des 2010 gegründeten gemeinnützigen Vereins Papageiensiedlung, der sich dieses Ziel gesteckt hat. Zusammen wollen sie die ökosoziale Lebensqualität ihrer 4.000 EinwohnerInnen am Rande des Grunewalds steigern.
Ute Rother-Kraft wohnt seit 38 Jahren in der auch Waldsiedlung genannten Wohnanlage und ist im Vorstand des Vereins. Als politisch denkender und reflektierter Mensch komme sie an dem Thema Klima nicht vorbei, sagt sie. Sie denke dabei an ihre vier Kinder, finde aber, dass sich nicht nur Eltern mit dem Thema beschäftigen sollten. „Alle haben eine Verantwortung. Nur wenn man Kinder hat, dann ist diese unausweichlich.“
Rother-Kraft ist es wichtig, alle AnwohnerInnen in den Prozess einzuschließen und nicht mit dem erhobenen Zeigefinger zu kommen. Sie sagt: „Wir wollen niemandem sein Auto wegnehmen und Angst vor einer Apokalypse machen. Wir wollen vorleben und in gemeinschaftlicher Organisation etwas verändern.“ Erschwert würden klimafreundliche Lösungen für die Siedlung durch den Denkmalschutz. „Durch gemeinschaftliche Lösungen können aber Kosten aufgrund von Denkmalschutz geteilt werden“, so Rother-Kraft. Projekte der Siedlung bezahlen die AnwohnerInnen selber. Erst in ein bis zwei Jahren wolle sich der Verein für staatliche Förderprogramme bewerben. Sonst sei man an äußere Vorgaben gebunden – „wir wollen aber erst mal unsere eigenen Projekte umsetzen“, sagt Rother-Kraft.
Mit Photovoltaik zur Neutralität
Dem gelernten Elektriker und Informatiker Küttner hat im vergangenen Jahr Fridays for Future etwas klar gemacht: „In den nächsten zehn Jahren entscheidet sich unglaublich viel.“ Als er dann im Internet seinen ökologischen Fußabdruck berechnete, wurde ihm bewusst, dass er auch selber mit sich konsequent sein müsse. „Und wir leben in einer Siedlung, wo man was machen kann.“ Schmunzelnd erzählt er, wie die Kinder seiner Nachbarn ihre Eltern unter Druck setzten, weniger Fleisch und Plastik zu kaufen. Sein persönliches Ziel: seinen eigens verursachten jährlichen CO2-Ausstoß auf unter 4 Tonnen zu reduzieren.
Das möchte Küttner unter anderem mit einer Photovoltaikanlage auf seinem Dach erreichen. Kostensparend sei die eigene Anlage auch, wie der gelernte Elektriker erklärt: „Ich gebe jetzt 6.000 Euro für eine Anlage aus. In 12 bis 20 Jahren rechnet sich das“ – schließlich müsse er ja dann für den selbst erzeugten und verbrauchten Strom nichts zahlen. Außerdem könne man mit einer eigenen Photovoltaikanlage, die 3.000 Kilowattstunden produziert, 30 Prozent des Stroms für den eigenen Haushalt verwenden und 70 Prozent des Stroms ins Netz einspeisen. Damit verdiene man sogar noch Geld dazu. „Das ist gesichert eine positive Investition“, sagt Küttner.
Zum Vergleich: Der jährliche CO2-Ausstoß des durchschnittlichen deutschen Bürgers liegt laut Umweltbundesamt bei 11,1 Tonnen. Als umweltverträglich gilt demnach ein CO2-Ausstoß von 2,5 Tonnen. CO2-neutrale Papageiensiedlung bedeutet für Küttner, Scheub, Rother-Kraft und den Verein, das jährliche durchschnittliche Pro-Kopf-Aufkommen auf diese 2,5 Tonnen zu reduzieren. Dieses Ziel könne aber nicht nur durch den eigenen Lebenswandel erreicht werden. Photovoltaik-Anlagen, E-Carsharing-Angebote und die CO2-bindende Terra-Preta-Kompostierung seien Lösungen, die der Verein in der Papageiensiedlung umsetzt.
Für die Autorin Scheub, die seit 23 Jahren in der Siedlung wohnt, ist Nachhaltigkeit ein Lebensthema. In ihrem Buch „Terra Preta. Die schwarze Revolution aus dem Regenwald“ erklärt sie, wie man mit Klimagärtnern die Welt retten und dabei noch gesunde Lebensmittel produzieren könne. Mit der Kompostierung durch die Pflanzenkohle könne relativ schnell viel CO2 im Boden gespeichert werden. Als positiver Nebeneffekt würden Pflanzen im darauf folgenden Jahr größer und schneller wachsen. „Wenn die Weltbevölkerung morgen Terra-Preta-Kompostierung anfangen würde, würden wir 2030 CO2-neutral sein. Dieses Potenzial kennen viele nicht“, sagt Scheub.
Im vergangenen Sommer machten Scheub, Küttner und Rother-Kraft mit 50 anderen AnwohnerInnen eine Fahrradtour durch ihre Siedlung. 16 Familien stellten vor, wie sie autofrei leben oder wie sie ihre Photovoltaik-Anlage auf dem Dach installiert haben. „So haben 50 Leute 16 neue Familien und ihre Projekte kennengelernt“, erzählt Küttner.
Deutsche Wohnen von Solarenergie überzeugen
„In der Zukunft wollen wir noch viel mehr dezentrale Lösungen für den Klimaschutz in unserer Siedlung schaffen“, so Scheub. Treffpunkt für solche Projektplanungen ist der im U-Bahnhof Onkel Toms Hütte. 80 Vereinsmitglieder zahlen einen Vereinsbeitrag von fünf Euro im Monat, um die Miete zu finanzieren. Zu den Themen Solarenergie, Mobilität, Gärten und gesundes und altersgerechtes Wohnen finden dort und bei den AnwohnerInnen zu Hause regelmäßige Treffen statt.
Küttner hat die Hoffnung, in Zukunft die Deutsche Wohnen und ihren Wohnblock in der Papageiensiedlung von Photovoltaikanlagen überzeugen zu können. Das Immobilienunternehmen hatte sich 2007 in die Siedlung eingekauft und knapp 800 Wohnungen saniert.
Küttner sieht das Ganze kritisch, da die Deutsche Wohnen mit der Sanierung von Denkmalschutz nur ihr Image habe aufbessern wollen. Könne man das Unternehmen jedoch von Photovoltaik überzeugen, wäre das eine große Sache. „Das ist die effektivste Form, Dächer zu nutzen. Wenn ich meinen eigenen Strom produziere, ist das am klimafreundlichsten, da der Stromtransport von Ökostrom ja auch Energie kostet.“
Oya-Ausgabe Juni 2016
Auf gute Machbarschaft
In der Berliner Papageiensiedlung ist ein lebendiges Ökosystem der Schenkökonomie entstanden. Von Ute Scheub
Am Anfang war mein Scheitern. Im Jahr 2007 wollte ich in „meiner“ Onkel-Tom-Siedlung in Berlins südwestlichen Bezirk Zehlendorf eine nachbarschaftliche Tauschökonomie aufbauen. Doch die Bewohner und Nachbarinnen mochten ihr Engagement nicht verrechnen – auch nicht in einer Zeitwährung. Stattdessen entstand so viel Anderes und Besseres. Wie gut, dass ich gescheitert bin!
Wir lieben unsere Onkel-Tom-Siedlung. Die von Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Salvisberg Ende der 1920er Jahre in den Grunewald hinein gebaute Siedlung ist ein denkmalgeschütztes Kleinod, immer wieder bestaunt von fotografierenden Besuchergruppen aus aller Welt. Der Name der Siedlung und ihrer U-Bahnstation „Onkel Toms Hütte“ leitet sich von einem früheren Ausflugslokal ab, dessen Besitzer Tom hieß. Im Volksmund wird sie wegen ihrer bunten Reihenhäuschen auch „Papageiensiedlung“ genannt. In den rund 800 Häusern und 1.100 Geschosswohnungen wohnt eine bunte Mischung von Leuten – Akademiker und Künstlerinnen, Gut- und Schlechtsituierte, Senioren und junge Familien. Politisch gesehen ist die Siedlung eine rot-grüne Enklave im traditionell schwarzen und reichen Zehlendorf.
„Architektur ist die Kunst der Proportion“, verkündet ihr Begründer Bruno Taut (1880-1938) auf seinem Denkmal. Gebäude und Straßenzüge sind bis ins letzte Detail durchdacht, die meist nur fünf Meter breiten Häuser und Gärten sind so angelegt, dass sie Nachbarschaftlichkeit zum Blühen bringen – Kontakte sind fast unvermeidlich. Wir bekommen mit, wie Paare sich finden, streiten und trennen, Menschen geboren werden oder sterben. Manchmal geht es hier zu wie in einer langgezogenen Wohngemeinschaft.
2007 las ich in „Geo“ einen Artikel über die „Seniorengenossenschaft Riedlingen“, in der junge Leute Alte pflegen und sich diese Dienstleistungen in einer „Zeitbank“ für ihr eigenes Alter anrechnen lassen. Wäre das nicht auch etwas für unsere Siedlung? Aufgeregt stürmte ich mit dieser Idee zu dem kleinen Damenchor unserer Siedlung. Wir nannten uns damals „Die röhrenden Hirschkühe“ und leiten gerne freitagabends das Wochenende singend ein.
Wir luden andere Nachbarn und Bewohnerinnen ein und diskutierten. Regelmäßige Treffen folgten, eine Mailingliste mit inzwischen mehreren hundert Haushalten entstand, ebenso die Websitemitsamt digitalem Tauschring. Wer Dienstleistungen anbot, dem oder der sollte ein „Bruno“ pro Stunde angerechnet werden – eine virtuelle Zeit-Währung mit dem Namen unseres Lieblingsarchitekten.
Doch in Wirklichkeit floss nie ein einziger „Bruno“. Diese Nachbarschaft hatte einfach keine Lust, die selbstverständliche gegenseitige Hilfe per Ausfüllen bürokratischer Zettelchen zu verrechnen. Wie gut, dass ich gescheitert bin!
Stattdessen ergrünte im Lauf der Zeit ein ganzes Ökosystem der Schenkökonomie mit vielen neuen Blüten, Trieben und Zweiglein. In ihrem Zentrum: eine Nachbarschaftsgalerie in der denkmalgeschützten U-Bahn-Station Onkel Toms Hütte – aufrecht erhalten vor allem von der verrenteten Generation 60plus, mit mehr Zeit ausgestattet als die jungen Eltern, die hier ebenfalls gerne wohnen, weil ihre Kinder ungefährdet auf der Straße spielen können. Dort finden Ausstellungen statt, Konzerte, Lesungen, Theaterstücke, Energieberatung, politische Veranstaltungen, Seniorenberatung, Vorträge zu Architektur und Denkmalschutz. Oder Abende, in denen Personen aus der Nachbarschaft ihre Lebensgeschichte erzählen: etwa eine Sängerin, eine Widerstandskämpferin oder ein international tätiger Richter. Um die Räume anmieten zu können, mussten wir im Jahr 2010 freilich erst zur Rechtsperson werden und den „Verein Papageiensiedlung“ gründen – in Deutschland ist gemeinnütziges Handeln ohne bürokratische Vereinsmeierei schier unmöglich.
In der Galerie steht auch ein Regal mit Büchern zum Tauschen. Wer einen Schmöker ausgelesen hat, stellt ihn hinein und nimmt sich einen neuen. Auch der Tauschring gründete sich dort neu – diesmal nichtvirtuell und mit regelmäßigen Treffen, auf denen sich Nachbarinnen mit Haushaltsdingen, Vertrauen und Zuhören gegenseitig beschenkten. Mal stand gemeinsames Filmegucken auf dem Programm, mal der Austausch von Spielen oder von Reiseerfahrungen, mal improvisiertes „Playback“-Theater. Irgendwann besuchten uns zwei erfahrene Mitglieder des Tauschrings Kreuzberg. „Was, ihr verrechnet nichts mehr?“, fragten sie. „Ihr seid Avantgarde. Schenkökonomie ist ganz weit vorn.“
Auch die Galerie, inzwischen umbenannt in „Bruno Taut Laden“, funktioniert via Schenkwirtschaft – geschenkte Zeit derjenigen, die Gäste und Besuchergruppen betreuen. Zu sehen sind nicht nur Bilder, sondern auch historische Materialien zur Siedlung wie Grundrisse, alte Fotos und Archivalien zu Bruno Taut. Für Thies Boye, Taut-Kenner und Architekt im Ruhestand, ist es „das Schönste“, wenn jemand kommt, der neue Details aus Bruno Tauts Leben beisteuert. Volker Heinrich kümmert sich liebevoll um alle Details, weil er die drumrum entstandene Gemeinschaft so „toll“ findet. Galeriebetreuerin Petra Sommer freut sich besonders über skurrile und lustige Begebenheiten – wie etwa den Besuch einer Dame mit Mops und rosa Schleife: „Die trägt er, weil er heute Geburtstag hat.“ Und ihre Freundin Annette Jahnke opfert ihre Freizeit für Galeriedienste, weil „ich hier menschlich so viel Schönes erlebe.“
Annette Jahnke wohnt noch nicht mal in der Siedlung, sondern nimmt umständliche Anfahrten in Kauf, um ihre Gratisdienste zu tun. In die Galerie geriet sie per Zufall – ihre Tochter stellte dort 2014 an der „Wand der jungen Kunst“ ihre Bilder aus. Die Sozialpädagogin im Vorruhestand fühlte sich damals „völlig entwurzelt“, weil das Haus, in dem sie jahrelang lebte, nach einem Rechtsstreit entmietet worden war. Ihr gefällt, dass die Ladengäste „aus höchst unterschiedlichen Schichten kommen – von ganz einfach bis blitzgescheit.“ Und das kulturelle Angebot „begeistert“ sie: „Konzerte in so einem kleinen Raum sind weit schöner als etwa in der Philharmonie. Man sitzt ja schon fast auf den Musikern drauf.“
Mittlerweile gehört auch „Zehlenwandel“, eine Transition-Town-Initiative in Berlin-Zehlendorf, zum Ökosystem. Die junge Ärztin Julia Käsmaier trommelte eine Gruppe zusammen, die einen Gemeinschaftsgarten errichten wollte. Der Anfang war bizarr: Sie suchten sich dafür einen kleinen Park außerhalb der Siedlung aus – nicht wissend, dass drumrum nur Steuerberater, Anwälte und Besserverdienende wohnten, die das Wort „Gemeinschaft“ offenbar in ihrem Leben noch nie gehört geschweige denn verstanden hatten. „Die wollen uns unseren Platz wegnehmen und die Mauer neu bauen!“, behauptete die flugs gegründete Gegen-Bürgerinitiative. „Zehlenwandel“ zog sich zurück. Und errichtete seine Terra-Preta-Beete andernorts – diesmal unterstützt von anwohnenden Familien, die die sommerlichen Picknicks neben den Gemüsebeeten zu schätzen wissen.
Durch all das habe sich das Klima in der Siedlung „sehr positiv entwickelt“, sagen viele. Neue Freundschaften entstanden, aus Nachbarschaft wurde Machbarschaft. Unterstützend kamen Aktivitäten des Projekts „Lebenskultur im Kiez“ hinzu, das mit dem Verein kooperiert. Der Leerstand in der Ladenstraße im denkmalgeschützten U-Bahnhof verschwand, kleine Geschäfte eröffneten wieder, ein neuer Wochenmarkt auf dem umgestalteten U-Bahn-Vorplatz entwickelte sich zu einem beliebten Treffpunkt von Leuten, die dort einen Feierabendwein schlürfen und der „U-Musik“ wechselnder Bands zuhören.
Und dann kamen auch noch „unsere“ Flüchtlinge. „Unsere“, so sagen hier viele, denn die Kontakte sind eng. Ungefähr 200, vor allem aus Syrien und Afghanistan, wohnen in der nahegelegenen Turnhalle eines Sportvereins. Einmal pro Woche organisieren der Verein und die Kirchengemeinde gemeinsam ein „Begegnungscafé“ für Geflüchtete und Einheimische. Und jeden Vormittag gibt es Sprach- und Alphabetisierungsunterricht im Bruno Taut Laden – organisiert von 17 Freiwilligen, mehrheitlich Lehrerinnen im Ruhestand.
Ihre Motive? „Ich wollte etwas Sinnvolleres machen als Klamotten in der Kleiderkammer sortieren.“ „Wir dürfen der AfD nicht das Feld überlassen.“ „Ich war selbst Flüchtling, aus der DDR.“ „Sie sind doch schon da – damit müssen wir so gut wie möglich umgehen.“ „Die Flüchtlingsmassen wirkten auf mich anfangs bedrohlich. Mir war deshalb wichtig, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.“ „Es macht einfach Spaß, das Miteinander.“ Ute Boye, eine der rührigsten Ehrenamtlichen des Vereins, erzählt begeistert, wie ein Geflüchteter sie neulich auf der Straße in schönsten Deutsch ansprach: „Wie geht es Ihnen?“ Oder wie eine Abordnung der Flüchtlinge „ihrer“ Heimleiterin am Internationalen Frauentag einen Blumenstrauß überreichte.
Die Schenkökonomie – sie zieht immer weitere Kreise, nun ist sie zu den Neuankömmlingen weitergewandert. Auch in der Flüchtlingsunterkunft haben Freiwillige Alphabetisierungskurse organisiert. Viele Frauen halten zum ersten Mal in ihrem Leben einen Stift in der Hand. Sie sind hochmotiviert, sie wollen lernen. Und sie beginnen von innen zu leuchten, wenn sie es geschafft haben, zum ersten Mal ihren Namen zu schreiben.
Das klingt alles idyllischer, als es ist. Die Schriftstellerin Nicki Pawlow, eine der freiwilligen Helferinnen, bekennt in einem Artikel für den „Tagesspiegel“ freimütig: Nach den Ereignissen in der Kölner Sylvesternacht sei in ihr ein „dunkles diffuses Bedrohtheitsgefühl“ gewuchert, das „ihr Denken betoniert“ habe. Doch „dann schaltete ich die Glotze aus und las die Schlagzeilen nicht mehr. Ich wollte mir selbst ein Bild machen. Ich habe mich auf die Flüchtlinge zubewegt. Kam mit ihnen in Berührung. Und wurde berührt. Auf die Schritte, die meine Beine machten, folgten Schritte im Kopf. Die Erkenntnis nämlich, dass es keine akute dunkle Bedrohung gibt.“ Sondern „ganz normale Menschen wie du und ich – sympathische, unsympathische, laute, schüchterne, selbstbewusste, ängstliche, nervige, interessante.“
Das Beglückendste in diesem ganzen Ökosystem, befindet Ute Rother-Kraft vom Verein Papageiensiedlung, sei die „ebenso rätselhafte wie faszinierende Arbeitsteilung“ aller Beteiligten: „Jeder und jede tut einfach das, wofür er oder sie sich am besten geeignet fühlt, ohne dass jemand Anweisungen erteilt, und deshalb tun sie es gerne. Wenn Menschen den Raum dafür haben, dann entwickeln sie Eigeninitiative und Eigenverantwortung.“ Die einen machen Galeriedienste, die anderen organisieren Veranstaltungen, die dritten betreuen den Tauschring, die vierten den Büchertausch, die fünften Flüchtlinge, die sechsten den Gemeinschaftsgarten, die siebten Siedlungsfeste. Zwar nicht alles ohne gelegentliche Reibereien, aber ohne jeden nennenswerten Konflikt. Ohne größere Absprachen, ganz nach dem Lustprinzip.
Das zeigte sich besonders beeindruckend, als sich der Verein Ende 2014 aus verschiedenen Gründen gezwungen sah, seine alten Räume aufzugeben und einen anderen, völlig heruntergekommenen Laden zu renovieren. Ein Imbiss hatte dort eine zerstörte Infrastruktur sowie eine Fett- und Stinkeschicht auf allen Wänden hinterlassen. Ein Aufruf an die Nachbarschaft genügte, und es kamen so viele, dass „Bauleiter“ Hans-Jürgen Kraft alle Hände voll zu tun hatte, die Freiwilligen zu koordinieren. Einige legten Leitungen, andere bauten Fenster ein oder strichen Wände. Nach drei Monaten gemeinschaftlicher Bauarbeit war der „Bruno Taut Laden“ fertig – zu denkbar geringen Kosten, die die Nachbarschaft ebenfalls gemeinsam getragen hatte.
„Darin zeigte sich ein starkes Bedürfnis nach Gemeinschaft und Miteinander“, sagt Ute Rother-Kraft. Auch bei ihr sei mehr Vertrauen entstanden, dass man Zeiten der Krise gemeinsam bewältigen könne. „Klar kommen wir manchmal an Grenzen. Aber wir brauchen uns darüber keine Sorgen zu machen! Das, was in diesem Ökosystem weiterbestehen soll, das wird auch weiterbestehen – das ist meine Erfahrung. Deshalb sage ich immer: Leute, wenn es euch zuviel wird, dann tut einfach weniger.“ Menschen würden nur dann dauerhaft aktiv, „wenn ihre Herzen angesprochen werden, wenn sie sich innerlich mit etwas verbinden können – mit den Flüchtlingen oder auch mit der Kunst. Und sie praktizieren Schenkökonomie, weil das eine Welt ist, in der sie leben möchten.“
Ja, wir leben in der Papageiensiedlung bereits das, wovon andere nur träumen können: Wir verbinden dörflichen Gemeinschaftssinn mit urbaner Freiheit. Wie gut, dass ich am Anfang so gründlich gescheitert bin.
Tagespiegel 4.3.16
Haben wir eine andere Wahl als
zu helfen?
Begegnungen mit Flüchtlingen in Berlin-Zehlendorf
Unsere Autorin hatte Angst und fragte sich: Was haben wir uns aufgeladen mit den vielen Flüchtlingen? Ihr Essay erzählt, was sie erlebte, als sie beschloss, sich selbst ein Bild zu machen. von Nicki Pawlow
„Male mal ne Ananas!“ Ich sehe die Frau, die das von mir fordert, fragend an. „Wir brauchen das A für den Alphabetisierungskurs. A wie Ananas!“
Während ich, so gut es geht, eine Ananas auf ein Blatt Papier male, erfahre ich, dass sich nebenan spontan einige deutsche Frauen mit Flüchtlingsfrauen zusammengefunden haben, die nicht lesen und schreiben können. Kurz darauf höre ich aus dem Nebenzimmer „Aaa, Mmm, Ooo“. Die Frauen sprechen im Chor: „A – na – nas! Ma – ma, O – ma!“
Ich falte weiter Papierschiffchen mit den Flüchtlingskindern, baue Legotürme, male Schneemänner und verspüre dabei den Wunsch, beim Alphabetisieren mitzumachen. Es ist der 12. Dezember 2015, ich bin beim samstäglichen Begegnungscafé, das die Ernst-Moritz-Arndt Gemeinde (EMA) mit dem Kiezverein Papageiensiedlung e.V. für die Flüchtlinge organisiert, die seit Ende Oktober 2015 in der Turnhalle, in der Onkel-Tom-Straße untergebracht sind. Immer gibt es Kaffee, Tee und kalte Getränke, selbstgebackene und gekaufte Kuchen, Kekse und Obst – überwiegend Spenden oder von der EMA finanziert.
Das Begegnungscafé, das in den Räumen der EMA stattfindet, ist stets sehr gut besucht – sowohl von den Flüchtlingen, als auch von deutschen Helferinnen und Helfern, die meist hier im Kiez leben. Es gibt einen Plan, in den sich jeder eintragen kann. Wer will in der Küche helfen? Wer baut Stühle und Tische auf und ab? Wer möchte sich mit den Flüchtlingen (immer sind Übersetzer anwesend) unterhalten? Wer bespaßt die Kinder?
Und nun gibt es also auch einen Alphabetisierungskurs für Flüchtlingsfrauen, immer samstags von 16 bis 17 Uhr. Die 15 Frauen kommen aus Afghanistan, Syrien, Pakistan. Die älteste ist 48, die jüngste 20. Sie sprechen Farsi und Arabisch. Schreiben und Lesen haben sie nicht gelernt, nie eine Schule besucht.
Überall in Deutschland wird Deutschunterricht für die Geflüchteten angeboten. Meistens kümmern sich ehrenamtliche Helferinnen und …Foto: dpa
Ich spreche Katja T. an, die die Idee für den Alphabetisierungskurs hatte. Sie ist Psychotherapeutin und erzählt, dass sie die Frauen gefragt habe, warum sie denn nicht die Sprachkurse des Kiezvereins Papageiensiedlung e.V. besuchten, die dreimal wöchentlich in der Bruno-Taut-Galerie im U-Bahnhof Onkel Toms Hütte stattfinden. Und dass die Frauen daraufhin betreten schwiegen. Bis eine sich endlich getraute zu sagen, dass der Deutschunterricht dort ja für die Flüchtlinge sei, die bereits lesen und schreiben könnten. Sie hingegen könnten es nicht, würden es aber gern lernen. Katja T. signalisierte, dass sie helfen könne. Die Frauen fügten hinzu, dass sie ohne ihre Männer lernen wollten. Weil sie sich dann entspannter fühlten. Die Männer ihrerseits, fanden die Idee mit dem Kurs gut und bestärkten Katja T. in ihrem Vorhaben: „Bitte unterrichten Sie unsere Frauen!“
Die handelte sofort. Sie bat die Frauen in ein leeres Nebenzimmer und schob Tische und Stühle zu einer großen Runde zusammen. Dann malte sie die Buchstaben A , M und O auf weißes Papier und legte los. Seither lernen Samira, Leila, Fatima sowie die übrigen Frauen das deutsche Alphabet. Und seit der zweiten Unterrichtsstunde bin ich mit weiteren Helferinnen mit dabei.
Motiviert, wissbegierig, dankbar
Auch in der Onkel-Tom-Halle bin ich aktiv. Dort findet nämlich seit November an zwei Vormittagen in der Woche ebenfalls ein Alphabetisierungskurs für „unsere“ Frauen statt, von dem wir erst kürzlich erfuhren. Installiert hat diesen Kurs die Leiterin der Notunterkunft, Veronica Großmann. Für den Unterricht konnte sie Ina S., eine erfahrene Deutschlehrerin, gewinnen. Glücklicherweise klappte es sofort, beide Kurse aufeinander abzustimmen, ohne Kompetenzgerangel. Katja T. und Ina S. tauschen sich regelmäßig aus, wie weit sie im Unterricht jeweils gekommen sind.
Gearbeitet wird mit einem Lehrbuch, das die Alphabetisierung und die Vermittlung von Deutschkenntnissen miteinander vereint. Alle lernenden Frauen haben ein solches Buch. Großmann hat die Bücher angeschafft. Hinzu kommt, das jede Kursteilnehmerin (dank Spenden) über Federmappe, Bleistift, Radierer, Anspitzer und Schreibheft verfügt. Katja T. besorgte außerdem Materialien vom Bundesverband Alphabetisierung, die die EMA finanziert. Nun verfügen wir auch über Silbentabellen, Laut-, Bilder- und Zahlenkarten.
Die Frauen sind motiviert und begierig zu lernen. Sie sind sehr dankbar. Sie sitzen bereits eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn auf ihren Plätzen und warten auf uns. Wir deutschen Helferinnen – inzwischen sind wir in der EMA neun, in der Turnhalle fünf – mischen uns unter sie, so dass jede intensiv betreut werden kann. Zu Anfang beginnt Katja T. mit einer Vorstellungsrunde: „Ich heiße Katja. Wie heißt du?“ – „Ich heiße Khorshid. Wie heißt du?“ Und so weiter.
Die Kinder werden derweil im Nebenzimmer betreut. Nur die Babys sind bei uns, wenn sie nach der Mutter verlangen. Sind sie unruhig, werden sie gestillt. Es ist den Frauen anzumerken, dass sie wissen, wie wichtig es für sie ist, die neue Sprache zu lernen. Dass es für sie eine (und vermutlich die erste) Chance auf Bildung ist. Manch eine hält hier zum ersten Mal einen Stift in der Hand. Manch eine hat noch nie zuvor in ihrem Leben etwas nur für sich getan. Manch eine ist zunächst auch überfordert und vergisst bis zur nächsten Stunde das Gelernte wieder. Vielleicht ist sie auch traumatisiert. Wir wissen es (noch) nicht.
Manchmal ist es laut und wuselig
Der Unterricht von Katja T. ist kurzweilig. Zahlen aufsagen, leichte Quizübungen wechseln ab mit, Silbenlesen (ma, po, eu, ti), Wörterlesen (Sofa, Info, Tomate) oder Wörterlegen (mit ausgeschnittenen Buchstaben). Es wird konzentriert gearbeitet. Und auch viel gelacht. Dass zwei Übersetzerinnen anwesend sind, erleichtert die Verständigung.
Während der Unterrichtsstunden, die im Vorraum der Turnhalle stattfinden, versucht Ina S. mit ihren Schützlingen möglichst nur Deutsch zu sprechen. „Schlagt bitte Seite 18 auf und lest die Wörter!“ Wir Helferinnen, wiederum unter die Frauen gemischt, unterstützen deren Lese-, Schreib- und Sprech-Übungen. Dieser Unterricht ist klassisch. Die Lehrerin steht vorne, die Schülerinnen sitzen ihr an Holzklapptischen gegenüber. Auch Ina S. und ihre Art zu lehren ist bei den Frauen überaus beliebt. Dabei findet der Unterricht teils unter erschwerten Bedingungen statt. An manchen Vormittagen ist es sehr laut und wuselig. Dann werden die beiden Türen des großen Durchgangsraums, in dem auch Mahlzeiten eingenommen und Gäste empfangen werden, ständig geöffnet.
Kinder, die der Kinderbetreuung entwischt sind, purzeln herein, „Mama, Mama!“ Aber Mama will ja lernen. Also schiebe ich die Hosenmatze wieder liebevoll zur Tür hinaus. Manchmal auch zwei-, dreimal. Dann schlurft ein altes Mütterchen herein, um sich am Samowar einen Tee zu holen (Ich schließe die Tür hinter ihr!).
Der Sozialarbeiter, ein freundlicher Syrer, hat nun endlich verstanden, dass er, wenn er „unseren“ Raum durchschreitet, die Tür hinter sich auch wieder zumachen kann. Dem Putzmann, der mit seinem Putzwagen angerappelt kommt (inzwischen auf Zehenspitzen, einen Finger und einem Lächeln auf den Lippen), halte ich die Tür dann schon mal auf. Trotz alledem kommen wir auch hier gut voran. 21 Buchstaben des deutschen Alphabets sowie die Zahlen 1 bis 20 haben wir schon durchgenommen. Die meisten Frauen können bereits einfache Wörter lesen, schreiben und auch sprechen.
200 Menschen Bett an Bett in einer Turnhalle, ist eine Kunst
Die Jungs vom Sicherheitsdienst schirmen unseren Unterricht ab, so gut es geht, nehmen auch mal die Kinder auf den Arm und haben ein offenes Ohr. Sie sind hilfsbereit, wenn wir was brauchen (Wo ist die Tafel? Wo ein feuchter Wischlappen für die Tische? Die Eddings fehlen!). Ein Zeichen dafür, dass die resolute Leiterin Veronica Großmann ihren Laden gut im Griff hat. Denn das Zusammenleben von 200 Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zu managen, die monatelang Bett an Bett in einer Turnhalle miteinander klar kommen müssen, ist eine Kunst.
Ich gehe gern in die Turnhalle und in die EMA, um bei der Alphabetisierung der Flüchtlingsfrauen zu helfen. Ja, ich bin dankbar, dabei sein zu dürfen. Weil es sinnvoll ist. Weil jede(r) in der gegenwärtigen Situation etwas Gutes tun kann. Weil wir ein tolles, effektives Team sind. Weil wir so viel zurückbekommen. Eine bleibende Erinnerung: Wie Sherifeh (eine Frau, die ich bis dahin noch niemals lachen sah) zum ersten Mal ihren Vor- und Zunamen schrieb. Das Leuchten, das dabei ihr Gesicht erhellte, pflanzte sich unmittelbar in mein Herz. Ab sofort kann sie Dokumente eigenhändig unterzeichnen und hat ein gehöriges Stück Selbstbestimmung hinzugewonnen.
Ich bin auch mir selbst dankbar. Weil ich meine Berührungsangst überwunden habe. Denn nach anfänglichem Optimismus im vergangenen Sommer und trotz eigener Flucht-Erfahrung, begann da ein diffuses dunkles Bedrohtheitsgefühl zu wuchern, das mir längere Zeit wie ein hässlicher gesichtsloser Schatten folgte. Das nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln mehr und mehr mein Denken betonierte. Unaufhörlich ratterten krude Gedanken durch meinen Kopf: Was haben wir uns da bloß aufgeladen? Ist es überhaupt zu schaffen? Ist meine kleine Tochter auf der Straße noch sicher? Wann wird es hier den ersten Anschlag/Übergriff geben? Wird unserem schönen, sicheren und freien Leben unwiederbringlich der Garaus gemacht? Ich schlief schlecht. Ich träumte wirres Zeug.
Doch dann schaltete ich die Glotze aus und las die Schlagzeilen nicht mehr. Ich wollte mir selbst ein Bild machen. Ich habe mich auf die Flüchtlinge zubewegt. Kam mit ihnen in Berührung. Und wurde berührt. Auf die Schritte, die meine Beine machten, folgten Schritte im Kopf. Die Erkenntnis nämlich, dass es keine akute dunkle Bedrohung gibt, dass der hässliche gesichtslose Schatten nur in meinen Gedanken existiert. Inzwischen hat er sich aufgelöst. An seine Stelle sind viele Gesichter getreten.
Wir teilen ein Stück Leben, auch wenn es nicht leicht wird
Ich treffe auf ganz normale Menschen wie du und ich – sympathische, unsympathische, laute, schüchterne, selbstbewusste, ängstliche, nervige, interessante. Es sind Leute, die gestern noch ein eigenes Leben hatten und heute in einer Turnhalle wohnen. Manche kenne ich, manche nicht. Wir begegnen uns im Alltag. Sie grüßen mich. Ich grüße sie. Das ist gut so. Das beruhigt. Das ist Normalität. Ich teile mit ihnen ein Stück Leben. Dabei bin ich entspannt, aber nicht euphorisch. Ich weiß, es wird nicht leicht werden. Denn diese Menschen haben eine völlig andere Mentalität als wir. Und ja, es wird auch Konflikte geben. Aber haben wir in dieser globalen Notlage eine andere Wahl als zu helfen?
Wir alle sollten versuchen – so wie hier in unserem kleinen Zehlendorfer Kosmos, so wie an vielen anderen Orten auch – das Beste daraus zu machen. Wir dürfen das Feld nicht dem Mob von Clausnitz überlassen. Wir dürfen uns nicht verrückt machen lassen, denn wir haben die Möglichkeit, immer wieder neu nach Lösungen zu suchen.
Nicki Pawlow ist Schriftstellerin und lebt in Berlin-Zehlendorf. 1977 floh sie mit ihren Eltern aus der DDR. Zuletzt erschien ihr autobiografischer Familienroman „Der bulgarische Arzt“.
Der Text erschien auf Tagesspiegel-Zehlendorf.